Wertingen, den 18.11.2001
Ihr letzer Brief an mich war etwas beunruhigend. Sie schreiben darin,
Sie hätten Ihr Leben verfehlt, könnten sich an nichts mehr
erfreuen, und dächten ernsthaft daran, Ihrem Leben ein Ende zu
setzten. Verlassen Sie diese Welt bitte noch nicht so bald! Die Menschheit
würde eines ihrer wenigen Universalgenies verlieren und ich denjenigen
Menschen, der mir in jedem seiner Briefe - unbeabsichtigt - klarmacht,
dass ich überhaupt keine Ahnung von irgend etwas habe. Und das
ist noch euphemistisch ausgedrückt. Denn nach Ihrer Überzeugung
wissen Sie ja nichts, und dennoch sind Sie nach meiner Überzeugung
mir in jedem Gebiet des Wissens überlegen. Und da etwas, das
kleiner ist als Null, etwas Negatives ist, muss ich ein negatives
Wissen besitzen. Was das sein soll, kann ich mir nicht vorstellen,
aber dies ist wohl nur ein weiterer Beweis für die Negativität
meines Wissens. Und sollten Sie beim Lesen dieser Zeilen kein einziges
Mal gelacht oder gelächelt haben, dann zeigt das entweder, dass
Sie wenig Humor besitzen (Gut möglich, schließlich sind
Sie der Deutsche schlechthin), oder es bedeutet, dass ich nicht sehr
witzig bin (Auch gut möglich). Die Wahrheit liegt wahrscheinlich
wie so oft in der Mitte oder ist irgendwo da draußen. In diesem
Punkt werden Sie mir widersprechen oder bessergeschrieben mir jetzt
widerdenken und mir später widerschreiben (, falls Sie es nicht
ablehnen, Briefpapier und Porto zu verschwenden an einen Wortklauber
wie mich). Auf jeden Fall sind Sie die Wahrheit betreffend anderer
Meinung als ich. Sie vermuten die Wahrheit im Innersten der Dinge
und bemühen sich seit Jahren, vorzudringen zu diesem innersten
Wesen der Welt, zu dem, wohinter nichts mehr sich verbirgt. Doch immer
wenn Sie sich an diesem Punkt angelangt glauben, erweist sich das
scheinbare "Nichts" als ein "Etwas". Sie sind
zwar dann trotzdem einen Schritt weiter, aber nach Ihrer Philosophie,
die keinen Unterschied kennt zwischen "nicht alles wissen"
und "nichts wissen", sind Sie "so klug als wie zuvor"
(Zitat aus einem Drama von Goethe, dessen Name mir leider entfallen
ist). [Anmerkung des Verfassers: Der Inhalt der vorigen Klammer eignet
sich gut zur Aufnahme in Stilblütensammlungen.] Bewundernswerterweise
erholen Sie sich aber bald von dieser Enttäuschung und suchen
auf eine neue Art und Weise nach der tiefsten Wirklichkeit. Doch auch
das neue Mittel bringt Sie Ihrem Ziel zwar näher, aber eben doch
nicht ganz dorthin. Damit schließt sich der circulus vitiosus.
[Anmerkung des Verfassers für Leser ohne Latinum: Quod scientiae
communis est sensum verbi circuli vitiosi novisse et praetereo sensus
eius verbi contextu intellegendus est, id verbum hic non in Germanicum
convertitur.] Aber all das wäre noch recht harmlos, wenn nur
Ihre Methoden nicht immer bedenklicher würden. Sie fingen an
mit der Philosophie, da Sie darin den Schlüssel zu allen Antworten
sahen, und Sie wandten sich von ihr ab, als die "Liebe zur Weisheit"
sich nur als Schlüssel zu neuen Fragen herausstellte. Sie versuchten
es mit den Rechtswissenschaften, später mit der Medizin und studierten
zuletzt auch noch Theologie, die Ihnen jetzt als die größte
Zeitverschwendung erscheint, obwohl die Theologie anders als die Philosophie
zumindest eine feste Grundlage hat, nämlich die christliche Offenbarung..
Momentan, das haben Sie mir im letzten Brief geschrieben, versuchen
Sie es mit "Weißer Magie". Und was ist, wenn auch
das nicht ans Ziel führt (und das wird es nicht)? Werden Sie
sich dann der "Schwarzen Magie" zuwenden? Werden Sie bereit
sein, den Mächten der Finsternis Ihre Seele zu verkaufen, bereit,
für Hilfe des Teufels im Diesseits das Jenseits im lodernden
Höllenfeuer zu verbringen? (Eigentlich interessant, dass das
Böse sich im Feuer genauso wohl fühlt wie in der Finsternis.)
Bevor Sie einen solchen Vertrag unterschreiben, bedenken Sie bitte,
dass man die Dauer der Ewigkeit doch meistens unterschätzt. Bedenken
Sie ferner, dass auch der Fürst der Finsternis nicht alles wissen
muss. Wieso soll ausgerechnet er die letzte, tiefste Wahrheit kennen?
Sie meinen, weil er jeden Sachverhalt verdreht darstelle und man dazu
auch jeden Sachverhalt kennen müsse? Wer sagt Ihnen denn, das
der Teufel wirklich alles verdreht? Na also! Zum Abschluss möchte
ich ihnen noch einen Tip geben: Nutzen Sie Ihr Wissen und Ihre Fähigkeiten,
um den Menschen zu helfen. Das lenkt Sie ab von der Unmöglichkeit,
die letzte Wahrheit zu erkennen, erleichtert das Leben vieler und
ist außerdem gut für Ihr Seelenheil. Und das sind gleich
drei Dinge auf einmal! |