Thema 2

Mit einem Ruck fuhr er hoch. Thiel war erwacht und stand mit verzerrtem Gesicht vor ihr. Diesen Ausdruck in seinen Augen hatte sie noch nie zuvor gesehen. Er schien durch sie hindurch zu starren. Verwirrt drehte Lene sich um, konnte aber hinter sich nichts entdecken, das seine Aufmerksamkeit erweckt haben könnte. Das Sonnenblumenbild, das sie nach ihrer Hochzeit an die Wand über ihrem Bett aufgehängt hatte, hatte ihm noch nie so gut gefallen wie ihr. Auch auf ihrem Nachttisch lagen nur ihr Schmuck und die Bibel. Lenes Blick schweifte auf die andere Seite des Ehebetts und erblickte Thiels Ehering. Sie wunderte sich. Er nahm ihn sonst nie zum Schlafen ab. Daneben lag eine Kastanie. Lene konnte sich nicht erinnern, wo sie diese schon einmal gesehen hatte, drehte ihren Kopf und blickte Thiel zögernd an. Dieser hatte sich seitdem nicht bewegt; regte keine Miene und sie wünschte sie wüsste, was gerade in seinem Kopf vorging.
Auf einmal machte er einen Schritt auf sie zu, öffnete den Mund, so als wolle er ihr etwas sagen, könne es aber nicht. Langsam ging er zu seinem Nachttisch. Sie dachte er greife nach dem Ring, nahm aber nur die Kastanie zitternd und liebevoll in seine Hand. Mit dem Zeigefinger fuhr er sanft ihre Konturen nach und umschloss sie dann fest in seiner Faust. Ohne ein Wort zu sagen ging er.
Lene sprang auf, rannte zur Tür und sah ihm nach. Sie war sich nicht sicher, ob er wusste wohin er lief. Auf einmal fiel ihr der Tag wieder ein, als Thiel und Tobias hier vor dem Haus gespielt haben - mit einer Kastanie. Ein Schauer durchfuhr sie als ihr plötzlich bewusst wurde, dass sie die beiden für immer verloren hatte. Sie empfand eine Leere, die sie nie für möglich gehalten hatte. Zum ersten Mal weinte sie.

K.W.