Phantasie und Wirklichkeit Phantasie als produktive Kraft Sigmund Freud (1856-1939): Der Dichter und das Phantasieren [Auszug;
[...] Gehen wir daran, einige der Charaktere des Phantasierens
kennenzulernen. Man darf
sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte.
Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede
einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der
unbefriedigenden Wirklichkeit. Die treibenden Wünsche sind
verschieden je nach Geschlecht, Charakter und Lebensverhältnissen
der phantasierenden Persönlichkeit; sie lassen sich aber ohne Zwang
nach zwei Hauptrichtungen gruppieren. Es sind entweder ehrgeizige
Wünsche, welche der Erhöhung der Persönlichkeit dienen, oder
erotische. [...] Nicht übergehen kann ich aber die Beziehung der Phantasien zum Traume. Auch unsere nächtlichen Träume sind nichts anderes als solche Phantasien, wie wir durch die Deutung der Träume evident machen können. Die Sprache hat in ihrer unübertrefflichen Weisheit die Frage nach dem Wesen der Träume längst entschieden, indem sie die luftigen Schöpfungen Phantasierender auch „Tagträume" nennen ließ. [...] Der Dichter mildert den Charakter des egoistischen Tagtraumes durch Abänderungen und Verhüllungen und besticht uns durch rein formalen, d.h. ästhetischen Lustgewinn, den er uns in der Darstellung seiner Phantasien bietet. Man nennt einen solchen Lustgewinn, der uns geboten wird, um mit ihm die Entbindung größerer Lust aus tiefer reichenden psychischen Quellen zu ermöglichen, eine Verlockungsprämie oder eine Vorlust. Ich bin der Meinung, dass alle ästhetische Lust, die uns der Dichter verschafft, den Charakter solcher Vorlust trägt und dass der eigentliche Genuss des Dichtwerkes aus der Befreiung von Spannungen in unserer Seele hervorgeht. Vielleicht trägt es sogar zu diesem Erfolge nicht wenig bei, dass uns der Dichter in den Stand setzt, unsere eigenen Phantasien nunmehr ohne jeden Vorwurf und ohne Schämen zu genießen. [...] (v 1908) Dietmar Kamper: Macht und Ohnmacht der Phantasie [Auszug] [...] Jeder kennt heute „Fantasy", das Stichwort für Bücher und Filme, die an einer phantastisch andersartigen Welt arbeiten, die historische Erinnerungen, wie sie auch in Märchen, Legenden und Sagen vorkommen, mit Wucherungen überziehen und darzustellen versuchen, was geworden wäre, wenn die Weltzivilisation sich nicht für Aufklärung, _ Rationalität, Vernunft und nicht für industriellen Fortschritt entschieden hätte. Hier spielt Phantasie offenbar die Rolle einer Erfindung von Gegenwelten unter Betonung der Vergangenheit. Doch Vorsicht! Oft zeigen solche rückwärts gewandten „Utopien" den Geist dieser Zeit genauer als eine wissenschaftliche Studie über den Zeitgeist. Man denke an Tolkien, man denke an White, man denke an Michael Ende. - In der entgegengesetzten Perspektive der phantastischen Erfindungen, in der Zukunft, ist „science fiction" angesiedelt. Diese stellt, im Unterschied zur „Fantasy"-Literatur, die Welt unter der Annahme dar, dass Wissenschaft und Technik sich uneingeschränkt und ohne die lästigen Einsprüche lebendiger Menschen weiterentwickelt hätten, gelegentlich bis zu einer futuristischen Zivilisation der Menschenleere. Auch hier hat man den Eindruck, dass der „Prospekt" der Menschheitsentwicklung, den die Phantasie in „science fiction" auseinanderfaltet, unfreiwillig aufschlussreich ist für die Ängste und Hoffnungen unserer Gegenwart. Vielleicht ist Wissenschaft dort, wo sie die Welt verändert, längst eine derartige „science fiction" und vielleicht sind die Schrecken einer Selbstauslöschung der Menschheit ganz real. - Am Kreuzweg von phantastischer Vergangenheit und phantastischer Zukunft steht die Literatur, die sich traditionellerweise als Sachwalterin der menschlichen Fiktionen versteht und in der jeweiligen Gegenwart ein Plädoyer für die Veränderbarkeit der unvollendeten Menschen hält. Auch sie protestiert gegen eine fix und fertige Welt, aber nicht, indem sie aus ihr herausspringt, sondern indem sie in der modernen Lebenswelt die Kräfte stärkt, die für Veränderungen gut sind, insbesondere die Phantasie. Das setzt jedoch voraus, dass die Phantasie, die Imagination, die Einbildungskraft in Spannung zu einer anderen Instanz stehen, zu einem Realitätsprinzip, zu einer historisch bestimmten Not der menschlichen Lebensfristung in der Gesellschaft. Die fiktive Welt der Literatur ist angewiesen auf eine wirkliche Welt, auf Widerstand, auf Hunger, Durst und Not, wenn sie wirksam werden soll. [...] (v 1986) Wahrheit als Gefühlsgewissheit?Die Frage der Anthropologie (Lehre vom Menschen) lautet: Was ist der Mensch? Aus der Vielzahl der Antworten auf diese Frage seien einige zitiert: „Unsere ganze Würde besteht also im Denken." (Pascal) „Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er steht aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt an ihm: er kann forschen, er soll wählen." (Herder) - „Der Mensch ist nicht umweltgebunden, sondern weltoffen. Das heißt: Er kann immer neue und neuartige Erfahrungen machen, und seine Möglichkeiten, auf die wahrgenommene Wirklichkeit zu antworten, sind nahezu unbegrenzt wandelbar." (Pannenberg) Ist es also die Vernunft, die den Menschen auszeichnet und ihm den Weg zum Glück eröffnet? Ermöglicht sie den Fortschritt, oder macht sie den Menschen gerade unglücklich? |
Volksmärchen und Kunstmärchen
Nach S. Freud ist der Traum Erfüllung vornehmlich sexueller Triebwünsche, die unterdrückt, verdrängt wurden, weil sie unerlaubt oder verpönt sind; durch die Traumarbeit werden sie maskiert und verschleiert, die Traumdeutung besteht in der Entschleierung der im Trauminhalt verborgenen Triebwünsche. Über den Traum besteht - nach Freud - Zugang zum individuellen Unbewussten. Nach dieser Auffassung sind Träume sinnvolle psychische Gebilde, die nach einer bestimmten Symbolik verschlüsselte Elemente aus unbewussten Konflikten enthalten. - Der Traum galt jahrhundertelang als die Sphäre der Berührung des Menschen mit metaphysischen Mächten, wo direkt oder verschlüsselt höhere Einsichten, Weissagungen, Botschaften, göttliche Aufträge übermittelt wurden. Seit der Romantik ist der Traum der Weg in eine Raum und Zeit aufhebende Phantasiewelt. |