Büchners Selbstverständnis als Dramatiker
An die Familie
Straßburg, den 28. Juli 1835
Der dramatische Dichter ist in meinen Augen nichts als ein Geschichtsschreiber,
steht aber über letzterem dadurch, dass er uns die Geschichte
zum zweiten Mal erschafft und uns gleich unmittelbar, statt eine trockene
Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hinein versetzt,
uns statt Charakteristiken Charaktere und statt Beschreibungen Gestalten
gibt. Seine höchste Aufgabe ist, der Geschichte, wie sie sich
wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen. Sein Buch darf
weder sittlicher noch unsittlicher sein als die Geschichte selbst;
aber die Geschichte ist vom lieben Herrgott nicht zu einer Lektüre
für junge Frauenzimmer geschaffen worden, und da ist es mir auch
nicht übel zu nehmen, wenn mein Drama ebenso wenig dazu geeignet
ist. Ich kann doch aus einem Danton und den Banditen der Revolution
nicht Tugendhelden machen! Wenn ich ihre Liederlichkeit schildern
wollte, so musste ich sie eben liederlich sein, wenn ich ihre Gottlosigkeit
zeigen wollte, so musste ich sie eben wie Atheisten sprechen lassen.
Wenn einige unanständige Ausdrücke vorkommen, so denke man
an die weltbekannte, obszöne Sprache der damaligen Zeit, wovon
das, was ich meine Leute sagen lasse, nur ein schwacher Abriss ist.
Man könnte mir nun noch vorwerfen, dass ich einen solchen Stoff
gewählt hätte. Aber der Einwurf ist längst widerlegt.
Wollte man ihn gelten lassen, so müssten die größten
Meisterwerke der Poesie verworfen werden. Der Dichter ist kein Lehrer
der Moral, er erfindet und schafft Gestalten, er macht vergangene
Zeiten wieder aufleben, und die Leute mögen dann daraus lernen,
so gut wie aus dem Studium der Geschichte und der Beobachtung dessen,
was im menschlichen Leben um sie herum vorgeht. Wenn man so wollte,
dürfte man keine Geschichte studieren, weil sehr viele unmoralische
Dinge darin erzählt werden, müsste mit verbundenen Augen
über die Gasse gehen, weil man sonst Unanständigkeiten sehen
könnte, und müsste über einen Gott Zeter schreien,
der eine Welt erschaffen, worauf so viele Liederlichkeiten vorfallen.
Wenn man mir übrigens noch sagen wollte, der Dichter müsse
die Welt nicht zeigen, wie sie ist, sondern wie sie sein solle, so
antworte ich, dass ich es nicht besser machen will als der liebe Gott,
der die Welt gewiss gemacht hat, wie sie sein soll. Was noch die so
genannten Idealdichter anbetrifft, so finde ich, dass sie fast nichts
als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos, aber
nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben, deren Leid und
Freude mich mitempfinden macht und deren Tun und Handeln mir Abscheu
oder Bewunderung einflößt. Mit einem Wort, ich halte viel
auf Goethe oder Shakespeare, aber sehr wenig auf Schiller.
|