Bridge the Gap
Eindrücke von einer Studienreise nach Südafrika. Von Evi Nies.

Ende Oktober überziehen die violettfarbenen Blüten der etwa 70.000 Jacarandabäume die Stadt Pretoria mit einem sanften Schleier, der Alleen und Plätze verzaubert. Den Besucher aus Deutschland wird von weißen Südafrikanern empört berichtet, dass die neue Regierung plane, diese nicht einheimischen Bäume (1888 aus Brasilien importiert) zu vernichten, da es nur noch afrikanische Gewächse in Südafrika geben solle, und sie beweise mit dieser Barba-rei einmal mehr ihre Inkompetenz bei der Durchsetzung eines afrikanischen Standpunktes. Daneben gibt es aber auch die Information, dass geplant ist, eine weitere unbegrenzte Verbreitung der Bäume einzudämmen, da das von den abgefallenen Blüten abgesonderte Öl das Grundwasser zunehmend belastet.

Zweierlei Wahrheiten
Nicht nur bei dem Blick auf die Jacarandabäurne gibt es in Südafrika zweierlei Wahrheiten, Nach einer Phase allmählicher Verbesserungen der Rassenbeziehungen nach dem Ende der Apartheid 1994 haben in den letzten Jahren das gegenseitige Misstrauen und die Spannun-gen wieder zugenommen. Das hat vor allem wirtschaftliche und soziale Gründe. Die bei Man-delas Amtsantritt versprochene Befriedigung der Grundbedürfnisse nach
Wohnraum, Wasser und Elektrizität für alle konnte nicht erfüllt werden (8 Mio. sind obdach-los), sondern im Gegenteil hat sich die Lage der armen Bevölkerung durch Privatisierung von Betrieben und Lohnkürzungen im öffentlichen Bereich noch verschlechtert. Seit 1993 wurden 500.000 Arbeitsplätze vernichtet - Von der steigenden Arbeitslosigkeit (bis zu 30 Prozent) sind vor allem auch viele junge Afrikanerinnen zwischen 20 und 30 betroffen, die aufgrund ihrer unzureichenden Schulbildung während der Apartheid heute keine Perspektive haben. Südafrika ist nach Brasilien weltweit das Land mit der größten Ungleichheit. Die einmal ange-strebte Umverteilung des Wohlstands hat auch nicht ansatzweise stattgefunden.
Seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre steigt die Kriminalität in erschreckendem Maße, vor allem bei Gewaltverbrechen und Mord. Manche Wohngebiete in Pretoria gleichen Hochsi-cherheitstrakten und das schwindende Vertrauen in die Sicherheitssysteme des Staates führt zu Selbstjustiz und dem Ruf nach der Wiedereinführung der Todesstrafe.

Be wise = condomize
Angesichts der akuten Gefahr, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden, entwickeln viele Jugendliche eine fatalistische Lebenshaltung, die sie das Ausmaß ihrer Bedrohung durch Aids unterschätzen lasse und die hier notwendige Verhaltensänderung verhindert. 4,7 Mio. Menschen sind HIV positiv in Südafrika, das bedeutet 20 Prozent der Bevölkerung zwischen 19 und 49, oder anders ausgedrückt: von den jetzt 15-jährigen wird die Hälfte in den nächsten 10 Jahren sterben. Dies hat auch verheerende wirtschaftliche Folgen in Form eines Mangels an qualifizierten Fachkräften, an Lehrerinnen, Ärztinnen, Polizistinnen und die Gesellschaft ist mit einer riesigen Anzahl von Waisen (370.000) konfrontiert, deren schulische Ausbildung und weitere Zukunft ungesichert sind.
Seit Jahren werden der Regierung Südafrikas Versäumnisse bei der offensiven Bekämpfung von Aids durch präventive Maßnahmen und die Anwendung von neuen Medikamenten nach-gesagt, aber erst in den letzten Monaten konnten Aids Hilfsgruppen auch vor Gericht Ent-scheidungen gegen die Regierung erzwingen. Selbst afrikanische Intellektuelle scheuen sich, zu scharfe Kritik an der Regierung zu üben, nun da es endlich eine afrikanische Regierung gibt.

Brain drain
Verständlicherweise eher von Seiten weißer Südafrikanerinnen (Bevölkerungszusammenset-zung; 12 Prozent Weiße, 77 Prozent Afrikaner, 8,5 Prozent Coloureds, 2,5 Prozent Asians) wird Kritik geübt an der rigiden Durchsetzung des affirmative action program vor allem im öf-fentlichen Dienst, demzufolge zum Ausgleich bisheriger Benachteiligung viele Weiße durch AfrikanerInnen mit ähnlicher Qualifikation ersetzt werden. Im Einzelfall kann dies zu besonde-ren persönlichen Härten führen und Weiße treffen, die wie eine Dozentin am Cape Technicon in Kapstadt in der Anti-Apartheidbewegung aktiv waren. Aus diesem Grund und wegen der hohen Kriminalität und den, wie sie meinen, düsteren Aussichten für Südafrika haben 5 bis 10 Prozent der Weißen das Land verlassen. Auf die Frage nach dieser Abwanderung antwortet Pieter Dempsey, Project Manager am früher rein weißen Germiston College in Pretoria, dass viele seiner weißen Mitbürgerinnen die Erfahrung nicht aushalten, sich plötzlich in einem Wettbewerb behaupten zu müssen, während sie vorher Zeit ihres Lebens allein aufgrund ih-rer Hautfarbe Vorrang hatten. Abgesehen davon, dass er seine Heimat hebt, sieht er für seine Kinder eine positive Erfahrung darin, in dieser neuen demokratischen Gesellschaft aufzu-wachsen, in der es keine Privilegien mehr aufgrund der Hautfarbe gibt, und würde deshalb nie gehen.
Aber nicht nur Weiße verlassen das Land, es findet ein ständiger brain drain statt, auch afri-kanische qualifizierte Fachleute wissen die besseren Verdienstmöglichkeiten in den USA zu schätzen.

Gleiche Bildung für alle
Angesichts dieser erneuten Verschärfung der Gegensätze und der zusätzlichen Geißel Aids kommt dem Ausbau des Bildungswesens oder, wie dies im mit Bodenschätzen reichen Land Südafrika genannt wird, der Entwicklung der Humanressourcen, eine Schlüsselstellung zu. Dementsprechend beträgt der Etat für Bildung fast ein Viertel des Staatshaushaltes4. Das ganze Ausmaß der früheren Diskriminierung der Afrikanerinnen zu Zeiten der Apartheid wird einem eindringlich bewusst bei den Schwierigkeiten, die jetzt zu bewältigen sind. Mit wie viel Energie und Hoffnung diese angegangen werden, davon konnten sich die Teilnehmerinnen einer Studienreise der Politischen Akademie Tutzing und des Schulreferates München im No-vember 2001 in verschiedenen Gebieten des Landes (Pretoria und Kapstadt) überzeugen. Vor allem das leidenschaftliche und kompetente Engagement Einzelner erweckte den Ein-druck einer Aufbruchstimmung, in der Neues probiert wird, was auch für den Besucher eine Anregung sein kann.
Nach dem neuen Schulgesetz vom l. Januar 1997 werden zum ersten Mal in der Geschichte Südafrikas alle Schülerinnen nach denselben Lehrplanen unterrichtet und legen alle die glei-chen Prüfungen ab5. Zuständig ist ein Erziehungsministerium auf nationaler Ebene und nicht wie unter der Apartheid 19 verschiedene, nach Bevölkerungsgruppen und Homelands ge-trennt. Es gibt nur noch zwei Arten von Schulen, staatliche und unabhängige, und keine mehr nach ethnischen Kriterien eingeteilt. Für dieses einheitliche Schulsystem werden neue Lehr-pläne entwickelt mit der Projektbezeichnung "Curriculum 2005", die seit 1998 stufenweise umgesetzt werden. Die Schwerpunkte dieser Lehrpläne sind aus den Diskussionen bei uns bekannt: weg vom Auswendiglernen, Förderung von Problemlösungsverhalten, lernerzentrier-ter Unterricht, Befähigung zu lebenslangem Lernen - das in Südafrika kreierte Zauberwort heißt OBE = outcome-based-education.

Blick in den Alltag
Im Bezirk Bronkhorstspruit in der Nähe Pretorias in der Provinz Gauteng hatten wir Gelegen-heit, fünf ländliche Schulen zu besuchen. Die öffentliche Erziehung ist noch nicht kostenlos und kann von 10 bis 100   pro Schuljahr variieren, Beträge, die vor allem allein erziehende Mütter nicht zahlen können. In den meisten Fällen gewähren die Schule, Verwandte, Sponso-ren oder die Regierung finanzielle Unterstützung, aber es kann auch sein, dass die Schule in besonders benachteiligten Gebieten die armen Familien unterstützt. An der Hlabelela Public School etwa geben die Lehrkräfte von der Schulspeisung aus pap (fester Maisbrei) und Fischöl den Kindern etwas mit nach Hause, wenn sie wissen, dass dies die einzige Nahrung für die kleineren, noch nicht schulpflichtigen Geschwister sein wird. Mit liebevoller Anteilnah-me berichteten uns die Kolleginnen von unzähligen Fällen abwesender Väter, die zum Teil mehrere Frauen mit Kindern an verschiedenen Orten hinter sich lassen.
Die bedrohliche Zunahme der Kriminalität wirkt sich auch auf die Schulen aus: Die Ausgaben für Sicherheitsmaßnahmen selbst in ländlichen Gebieten wie Bronkhorstspruit steigen und es ist deshalb nicht absehbar, ob die Klassenstärken von bis zu 50 Kindern in den ersten sechs Jahren und bis zu 35 in den Klassen 7 bis 9 in naher Zukunft gesenkt werden können. Weil die Schule sich erfolgreich an einem Wettbewerb der Telekom Südafrika beteiligt hat und sechs Computer geliefert wurden, lastet auf dem Direktor der Hlabelela Public School nun die Verantwortung, mit Personenschutz und schweren Vorhängeschlössern sowie Gittern an den Fenstern den Computerraum zu sichern. Viel dringender würde dieses Geld für eine Grund-ausstattung der Schule benötigt:
Es fehlt an Schreibmaterial, Büchern, naturwissenschaftlichen Sammlungen und kaum einer der 700 Stühle für die Kinder ist unversehrt.

Beseitigung des Analphabetismus
Jedes Kind hat das Recht, in seiner Muttersprache unterrichtet zu werden, was bei 11 offiziel-len Landessprachen (Zulu, Xhosa, Afrikaans, Pedi, Englisch, Tswana, Sotho, Tsonga, Swazi, Vena und Ndebele) einen enormen Aufwand bedeutet. Schon in der junior primary phase wird eine zweite Sprache (meistens Englisch oder Afrikaans) gelernt. Der Fächerkanon unter-scheidet sich kaum von dem europäischer Länder, bemerkenswert erscheint allerdings das Fach Life Orientation, in dem auch verstärkt Aids thematisiert wird. 1999 startete das Erzie-hungsministerium eine Bildungsoffensive mit dem Motto Tirisano (working together) mit neun Schwerpunkten, die Aufschluss über die Hauptprobleme geben6. Einer davon ist der offene Umgang mit HIV/Aids, z.B. im Rahmen einer HIV/Aids School Week. Die Jugendlichen sollen ermuntert, aber nicht durch medizinische Tests gezwungen werden, sich medizinische Hilfe zu holen. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Beseitigung des Analphabetentums innerhalb von 5 Jahren. Bei noch 7,5 Mio. Erwachsenen (Einwohner in Südafrika 42 Mio.), die weder lesen noch schreiben können, ist dies eine hoch gestecktes Ziel und bedeutet verstärkte Anstren-gungen in der Erwachsenenbildung.
Die Aufgabe, allen jungen Menschen in Südafrika gleichen Zugang zu Bildungsmöglichkeiten zu gewährleisten, heißt aber auch, die Lehrerinnen besser aus- und fortzubilden. Nach Unter-lagen des South African Institute of Race Relations waren noch im Februar 2001 80.000 afri-kanische Lehrkräfte unterqualifiziert, d.h. sie haben keine Lehrerausbildung absolviert und zum Teil auch keinen Matrik Abschluss erworben. Tatsächlich sind die Bemühungen zur Qua-lifizierung der Lehrkräfte schon sehr erfolgreich gewesen:
Zwischen 1991 und 1999 konnte der Anteil der unterqualifizierten Lehrkräfte von 40 auf 25 Prozent verringert werden, aber weitere Qualitätsverbesserungen sind notwendig und dafür wurden für das Jahr 2001 erneut Programme für Lehrkräfte unter 50 vor allem in ländlichen Gebieten entwickelt und Gelder bereitgestellt. Man geht von der Überlegung aus, dass nur qualifizierte Lehrkräfte den gewachsenen Anforderungen an die schulische Ausbildung genü-gen können und zwar insbesondere auf der Ebene der Matrik Prüfungen. Bisher liefert das Erziehungssystem nämlich bei weitem nicht genügend Absolventen, die eine Hochschulaus-bildung anstreben und den Bedarf des Landes an qualifizierten Fachkräften decken helfen.

Förderprogramme für afrikanische Studierende
Eine Hochschulausbildung ist an 21 Universities und 15 Technicons möglich. Nach einem Anstieg der Anzahl der Studierenden in der Mitte der 90er Jahre (um 100.000 auf etwa 600.000) gehen die Immatrikulationszahlen in den letzten Jahren zurück, dies wird u. a. auf den Rückgang an Schulabgängern mit Hochschulzugangsberechtigung zurückgeführt7. Auch hier sind die dramatischen Auswirkungen von Aids spürbar. Persönliche Betroffenheit oder die Belastung der Familien durch HIV/Aids hält viele Jugendliche vom Studieren ab, da sie sich nicht in der Lage sehen, später jemals Darlehen zurückzuzahlen. Positiv zu verzeichnen ist der gewachsene Anteil afrikanischer Studentinnen: seit 1993 ist deren Anzahl von 40 auf 60 Prozent gestiegen, allerdings überwogen noch 1998 die weißen Studentinnen bei den Ab-schlüssen: 68 Prozent White, 21 Prozent African, 7 Prozent Asian, 4 Prozent Coloured.
Und dieser Anteil soll entsprechend dem prozentualen Anteil an der Bevölkerung noch weiter wachsen, darauf sind viele Förderprogramme, denen wir in Südafrika begegnet sind, ausge-richtet. Die Erfahrungen der enormen Diskrepanzen zwischen den Eingangsvoraussetzungen der afrikanischen Studentinnen je nach ihrer schulischen Herkunft rührte zum Beispiel am Cape Technicon (Kapstadt) zum Ausbau des Teaching and Learning Centre. Ein ausgeklü-geltes Tutorensystem und die besondere Einrichtung eines Writing Centre dienen der indivi-duellen Förderung mit dem Ziel einer akademischen sowie persönlichen Qualifizierung. Die Tutorinnen werden schon im zweiten Studienjahr geworben, speziell an mehreren Wochen-enden geschult und für ihre Tätigkeit bezahlt. Im November 2001 hatte das Cape Technicon mit 11.000 Studierenden 250 Tutorinnen im Einsatz. Sie unterstützen 5 Stunden pro Woche in den jeweiligen Fachbereichen Studentinnen dabei, mit dem Studium zurechtzukommen, sie beraten und vermitteln Studier- und Arbeitstechniken (die Inhalte erinnern sehr an die in Bay-ern nun eingeführten Skillstunden für die 11. Klasse Gymnasium). In engem Kontakt mit den Dozentinnen und untereinander entwickeln sie ein flexibles System, das je nach Fach den Bedürfnissen der Studierenden angepasst werden kann. Das geht so weit, dass ein Tutor sich für einen gewissen Zeitraum in Absprache mit den Dozentinnen mit den Lernproblemen eines Studierenden befasst.
Die daraus erkennbare Wertschätzung jedes einzelnen jungen Menschen hinterlässt einen tiefen Eindruck. Offensichtlich konnte dieses Tutorensystem bereits so erfolgreich etabliert werden, dass es einen hohen Stellenwert im Lebenslauf hat, als Tutor gearbeitet zu haben.
Das Writing Centre setzt noch direkter an den Defiziten vieler afrikanischer Studentinnen an, von denen am Cape Technicon 6.000 (Africans, Coloureds, Asians) im Vergleich zu 5.000 Weißen studieren. Mir zwei full-time Lecturers einem Administrator (für die Organisation), zwei Consultants (meistens Studentinnen mit abgeschlossenem Studium) und 13 studenti-schen Hilfskräften ausgestattet wird den afrikanischen Studierenden geholfen, so beschreibt Zuzi Zantsi ihre Tätigkeit, "das niederzuschreiben, was sie wissen, aber nicht in die Sprache des jeweiligen Fachbereichs bringen können". Die Fachsprache der Ingenieurwissenschaften oder der Kommunikationstechnologie ist vielen nicht zugänglich und so verschleiern die zu-nächst offensichtlichen grammatikalischen Probleme beim Schreiben manchmal tiefer liegen-de Verständnisprobleme. Der Service des Centre umfasst academic writing workshops (zu-geschnitten auf einzelne Fachbereiche), Vermittlung von Computerkenntnissen bis hin zu Einzelberatung bei Seminararbeiten oder fürs Schreiben der Klausuren.
Alle Mitarbeiterinnen in diesen beiden Institutionen strahlten Freude, Schwung und Zuver-sicht in Bezug auf den Erfolg ihrer Arbeit aus. Noch ganz erfüllt von dem uns vermittelten Op-timismus erführen wir in der nächsten Gesprächsrunde mit Vertreterinnen der Studierenden, dass von den 11.000 Studierenden des Cape Technicon mehr als 3.000 HIV positiv sind und sich viele Hoffnungen auf die neu gegründete HIV/Aids support group richten, damit sich kei-ne Studentinnen mehr verstecken oder das Studium ohne Abschluss abbrechen.
Und wir erfahren, dass das Cape Technicon um die internationale Anerkennung seiner Ab-schlüsse kämpfen muss - Misstrauen und Vorurteile gibt es nicht nur in Südafrika selbst.

Anmerkungen
1 Washington Post, November 2001
2 Martin Schönteich, Institute for Security Studies, Pretoria, South Africa
3 Time, Februar 2002
4 Das ist Südafrika Teil 2, Hg.: Südafrikanische Botschaft. Bonn 1998, S. 3
5 ebd., S. 314, sowie alle übrigen Informationen zum Aufbau des Bildungswesens
6 South Africa Yearbook 2000/2001, p. 429ff.
7 Fast Facts February 2001, South African Institute of Race Relation